Es ist mir eine besondere Ehre, bei dieser Gedenkveranstaltung an die Opfer des mörderischen Brandanschlags auf die Solinger Familie Genç das Wort an Sie richten zu dürfen. Offen gestanden fällt es mir schwer, meine Gedanken zu einem der erschütterndsten Momente meiner Jugend in Worte zu fassen. Als Durmuş und Mevlüde Genç am frühen Morgen des 29. Mai 1993 fünf ihrer liebsten Menschen auf dieser Welt in den Flammen ihres lichterloh brennenden Wohnhauses verloren haben, war ich 17 Jahre alt.
In den Jahren nach diesem fürchterlichen Anschlag durfte ich Abitur machen, studieren, heiraten und drei Mal das große Glück genießen, Vater zu werden. Ich konnte mich gesellschaftlich engagieren und wurde als Abgeordneter in das türkische Parlament gewählt, kurzum es ist mir in diesem Leben bereits vieles vergönnt gewesen. Hatice Genç, eines der fünf Todesopfer, war als Sie in den Flammen umkam, etwa gleich alt. Und man kommt nicht umhin sich zu fragen, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn in jener Nacht ihre vier Mörder nicht Benzin im Hausflur ausgeschüttet hätten und nicht eine Zeitung zu einer Fackel geformt hätten und eben nicht das Feuer entfacht hätten.
Bei diesen Gedanken erfasst sicherlich viele von uns ein wiederkehrender Schmerz. Und nur in der beispiellos vorbildhaften Haltung insbesondere von Mevlüde Genç, finde ich und viele andere dann auch immer wieder Trost. Ich habe mich damals oft gefragt: wie stark muss ein Mensch sein, dass sie sogar im Augenblick des schlimmsten Schmerzes, den man sich für eine Mutter vorstellen kann, für Frieden, Respekt und Versöhnung werben kann. Sie war so stark, dass es für mich und quer durch die Republik für viele andere auch gereicht hat.
Denn die Versuchung war damals für uns Jugendliche groß, auf Falsches mit Falschem zu antworten und weiß Gott, es gab viele geistige Brandstifter, die aufstachelten. Ein brauner Mob überzog damals die neu wiedervereinigte Republik mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, weil Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror vermehrt Asyl in Deutschland begehrten. Wir waren wütend und wurden erdrückt von der Ohnmacht, tatenlos zuschauen zu müssen. Aber da war Mevlüde Genç.
Es wäre menschlich verständlich gewesen, wenn sie in den schwersten Stunden ihres Lebens Vergeltung gefordert hätte. Das tat Sie nicht. Stattdessen rief sie in ihrem bewegenden Appell zur Versöhnung auf. Sie nahm uns jungen Menschen unsere Wut und war ganz maßgeblich dafür verantwortlich, die Situation in Solingen und weit darüber hinaus zu entspannen. Dafür gebührt ihr unser steter Dank.
Ich bin mir nicht sicher, ob es Ihnen verehrte Gäste aufgefallen ist, dass wir Türken unabhängig von unserem Alter und unserer sozialen Stellung immer dort, wo wir Mevlüde Genç begegnen, ihr als Zeichen unserer Ehrerbietung und unseres tiefen Respektes, ihre Hände küssen. Und auch ich tue dies.
Herbert Grönemyer sagt in einem seiner Lieder: „….. und der Mensch heißt Mensch weil er vergisst, weil er verdrängt“. Nun, wir vergessen und verdrängen tatsächlich und Anlässe wie der heutige erinnern uns. Wir wissen aber auch, dass für Mevlüde Genç seit den schrecklichen Brandanschlägen das Leben „Nur noch weh tut“. Deshalb geht es mit heute selbstverständlich nicht darum, ihren Schmerz noch zu vergrößern. Aber ich denke er wäre für Sie 24 Jahre nach dem Anschlag ein Stück weit erträglicher, wenn unsere Gesellschaft den Weckruf von Mevlüde Genç glaubwürdig verinnerlicht hätte und wir Hand in Hand jeder Form von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit jegliche Basis entzogen hätten. Mit allein im letzten Jahr mehr als 1000 Anschlägen auf Flüchtlingsheime und Moscheen und zahllosen Übergriffen auf vermeintlich fremd aussehende Menschen bedrückt es mich – und ich denke alle Anwesenden im Saal – festzustellen, dass die schreckliche Geschichte der Familie Genç in Solingen, zu vielen scheinbar nichts gelehrt hat.
Und vor allem die Politik muss sich fragen lassen, wie es trotz Mahnmal in der Unteren Werner Str. 81 und der Präsenz der Zeitzeugen, der ununterbrochen in Solingen lebenden Familie Genç, möglich ist, das eine unverhohlen rassistische Partei wie die AfD über 8% der Stimmen in Solingen für sich verbuchen konnte. Selbstverständlich möchte ich den vielen Initiativen und Institutionen, die sich schon seit Jahrzehnten für ein aktives und gleichberechtigtes Miteinander der in Deutschland lebenden Menschen engagieren, nicht Unrecht tun. Aber wir alle stehen in der Verantwortung zu verhindern, dass das gesellschaftliche Klima, trotz exzellenter wirtschaftlicher Eckdaten von Scharfmachern, diesmal nicht mit Glatze und Springerstiefeln, sondern mit Anzug und Krawatte, weiterhin vergiftet wird. Insbesondere wir politisch Verantwortlichen müssen uns der rassistischen und fremdenfeindlichen Propaganda über alle Grenzen hinweg beherzt entgegenstellen. Wir müssen uns davor hüten, die giftigen Argumente der neuerdings als rechtspopulistisch umschriebenen Hetzer in Politikergewand zu adaptieren. Im Schulterschluss mit der überwältigenden Mehrheit unserer Gesellschaft gilt es, den Feinden unseres inneren Friedens und unseres Wohlstandes deutlich zu machen, dass wir diesem antiquiertem braunen Gedankengut keinen Millimeter Spielraum einräumen werden. Das sind wir den Opfern der Anschläge von Mölln und Solingen, den Opfern der NSU-Terroristen, den Menschen die hier seit Jahrzehnten friedlich leben, den Menschen die hier Zuflucht vor Krieg und Terror gefunden haben schuldig.
In diesem Sinne verneige ich mich nochmals vor den Opfern des Brandanschlags von Solingen und bete um die Gnade unseres Schöpfers. Den Hinterbliebenen wünsche ich Kraft und Geduld, den unvorstellbaren Schmerz zu ertragen und bedanke mich bei Ihnen und den Veranstaltern für die geschätzte Aufmerksamkeit.