„Die Aufklärung des NSU-Komplexes ist allen voran im Interesse der Bundesrepublik. Ihr Umgang mit dem NSU-Komplex wird das Bild des Landes und sein Ansehen international über Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen“, erklärt Mustafa Yeneroğlu (AK Partei), Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses der Großen Nationalversammlung der Türkei. Anlass ist der sechste Jahrestag des Bekanntwerdens der Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) am 4. November 2011. Mustafa Yeneroğlu weiter:
„Das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die NSU-Verbrechen lückenlos aufzuklären, wartet weiterhin auf seine Einlösung. Wir haben den Glauben an eine Aufklärung zwar nicht verloren, sind angesichts der bisherigen Ermittlungen jedoch merklich enttäuscht.
Es drängt sich zunehmend der Verdacht auf, als hätte die Aufklärung dieser beispiellosen Verbrechensserie nicht die oberste Priorität. Vielmehr gewinnt man immer stärker den Eindruck, als stünden andere Interessen im Vordergrund. Zu dieser Einschätzung gelangt man bereits, wenn man sich den bisherigen Verlauf der Ermittlungen grob vergegenwärtigt: Aktenvernichtungen, endlose Pannen-Serien, die teilweise eher wie Vorsatz aussehen als wie Fehler, plötzliche Zeugensterben unter dubiosen Umständen, Nähe von V-Männern an Tatorten oder das Wegsperren von NSU-Akten für einen Zeitraum von 120 Jahren. Irritierend waren in diesen Kontexten auch immer wieder Ungereimtheiten im Handeln der Polizei, des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes.
Nicht nachvollziehbar ist bisher zudem das schon an Sturheit grenzende Festhalten der Bundesanwaltschaft an der Drei-Täter-Theorie. Dass die NSU tatsächlich von nur drei Personen bestanden haben könnte, ist inzwischen absolute Mindermeinung.
Eine weitere Herausforderung bietet der NSU-Komplex im Hinblick auf die Umsetzung der Handlungsempfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse. Bisher darf man auch hier mehr als enttäuscht sein. Die neue Bundesregierung ist dringend aufgefordert, sich dieser Sache anzunehmen und wirksame Mechanismen einzuführen, damit Opfer rassistischer Gewalt in Zukunft nicht das gleich erleiden müssen, wie die Hinterbliebenen der NSU-Opfer. Dringende Handlungsfelder sind der institutionelle Rassismus innerhalb der Sicherheitsbehörden sowie dürftige Aufklärungsquote bei rassistisch motivierten Straftaten.
Die Republik Türkei wird die Entwicklungen im NSU-Kontext auch in Zukunft mit größter Aufmerksamkeit verfolgen. Trotz aller Ungereimtheiten und Irritationen ist unser Vertrauen in das Funktionieren des Deutschen Rechtsstaats und der Staatsgewalt nicht gebrochen. Wir wollen unseren Glauben, dass die Bundesrepublik die größte ausländerfeindlich motivierte Terrorserie ihrer Nachkriegsgeschichte, gerade im Hinblick auf ihre historische Verantwortung im Kampf gegen den Rassismus, zur Zufriedenheit der Türkeistämmigen in Deutschland sowie der deutschen und internationalen Öffentlichkeit aufklären wird, nicht verlieren.
Der Umgang der Bundesrepublik mit dem NSU-Komplex wird das Bild des Landes und sein Ansehen international über Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen. Insofern ist die Einlösung des Versprechens von Bundeskanzlerin Angela Merkel auch im Interesse Deutschlands. In diesem Sinne gebührt zahlreichen Initiativen und Journalisten sowie Politikern in Untersuchungsausschüssen in Deutschland großer Dank, die mit kritischen Fragen und investigativen Recherchen maßgeblich mit dazu beitragen haben, dass die Dimension des NSU-Komplexes zumindest in ihren Umrissen überhaupt sichtbar geworden ist.“