“Sowohl die Verurteilung als auch das Strafmaß sind zur Makulatur geworden, denn 5 Jahre Verhandlung haben im Ergebnis mehr Fragen hervorgebracht, als welche beantwortet. Durch die Verunmöglichung einer wirklichen Aufklärung haben Sicherheitsbehörden den Betroffenen des NSU-Terrors Gerechtigkeit verweigert. Stattdessen haben sie getrickst, Akten geschreddert und Spuren systematisch verwischt.” so Mustafa Yeneroğlu, Mitglied der Großen Nationalversammlung der Türkei, anlässlich des heutigen Urteils im NSU-Prozess. Yeneroğlu weiter:
Ein Strafprozess kann nur die individuelle Schuld der Angeklagten beurteilen und nur sie verurteilen, so eben auch im NSU-Prozess, der nicht einmal die Helferskreise in den Blick nehmen konnte. So hat der Prozess mehr Fragen hervorgebracht, als welche beantwortet. Vor allem hat er keine Aufklärung gebracht. Außer gegen einen schon vorher bekannten Fall mit einem nicht mehr strafbaren Toten auszusagen, hat die Hauptangeklagte Zschäpe nichts zur Aufklärung beigetragen. Die Opferfamilien wissen nach wie vor nicht, warum und wie gerade ihre Familienmitglieder ausgesucht wurden. Der hohen Wahrscheinlichkeit, dass bei den Taten Helfer mitgewirkt haben, ist nicht ernsthaft nachgegangen worden. Genauso wissen wir nicht, wie viel Beate Zschäpe von den Taten wusste und welche konkrete Rolle sie bei den jeweiligen Taten gespielt hat. Nicht aufgeklärt ist auch die Rolle der etwa 20 V-Leute im Umfeld der NSU sowie des bis zu 500 Leuten zählenden Netzwerks.
Die Bundesanwaltschaft hat kaum ein Interesse an einer umfänglichen Aufklärung des NSU-Komplexes gezeigt und war vielmehr darauf fokussiert, den möglichen Täter- und Helferkreis so klein wie möglich zu halten. Das offensichtliche Versagen des Geheimdienstes und der Polizei sowie die wahrscheinliche Verstrickung von Mitarbeitern staatlicher Behörden bleibt ein Tabu-Thema. Alles, was zur Aufklärung des NSU-Netzwerks beitragen könnte, blieb unter Verweis auf den Quellenschutz unter Verschluss. Gerade die Verfassungsschutzbehörden waren unwillig, bei der strafrechtlichen Aufarbeitung in einem über fünf Jahre dauernden Prozess alle Karten auf den Tisch zu legen. Stattdessen schredderten sie Akten und verwischten systematisch Spuren.
Bundeskanzlerin Merkel war sicherlich gewillt, ihr Versprechen der schonungslosen Aufklärung zu erfüllen, aber offenbar nicht imstande, sich gegen den falsch verstandenen Korpsgeist bei den Behörden durchzusetzen. Nach wie vor ist nicht in einem einzigen Fall bei der Polizei oder den Verfassungsschutzbehörden ein Strafverfahren wegen Strafvereitelung im Amt eröffnet worden. Damit ist man auch von Abschreckung weit entfernt.
Die NSU-Verbrechen sind auch nicht politisch-gesellschaftlich aufgearbeitet worden. Strukturelle Empfehlungen der bisher 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse blieben weithin unerhört. Der institutionelle Rassismus innerhalb der Behörden etwa, die die lange Blutspur quer durch Deutschland überhaupt ermöglicht hat, wurde bisher nicht ernsthaft problematisiert. Deshalb kann mit dem heutigen Urteil auch kein Schlussstrich gezogen werden. Die Aufklärung ist bei Weitem nicht beendet. Die bisherige Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex ist ein unwürdiger Umgang mit der eigenen Geschichte und ein Schlag ins Gesicht für die Familien der Nazi-Opfer.“